Ein Plädoyer gegen den Stress

Draußen lockt der blaue Himmel, es weht ein laues Lüftchen und ich habe keine Lust, am Schreibtisch zu sitzen. Darf man eigentlich mal richtig faul sein?

Wenn ich mir unseren Kater angucke, hat er definitiv die Faulheit gepachtet. Den Tag über wechselt er mit dem Stand der Sonne seine gemütlichen Plätze, frisst morgens und abends, spielt mehr pflichtgemäß mit meiner Tochter und schläft ansonsten gefühlte 23 1/2 Stunden.

Ist er tatsächlich faul? Nein. Er geht instinktiv achtsam mit seinem Energieverbrauch um. Müsste er sich sein Futter selber erjagen, bräuchte er für kurze Zeitspannen ein Höchstmaß an Energie, um seine Beute zu fangen. Dafür sammelt er Kraft, während er seine Tage verschläft.

Eichhörnchen sind ganz anders. Sie wuseln ständig durch die Gegend, um Futter zu sammeln und verbuddeln es rund um die Fundstellen. Im Winter scharren sie überall Löcher und suchen nach den Verstecken. Dabei sind sie nicht oft erfolgreich.

Wer hat eigentlich den Müll aus der Höhle gebracht?

Wie sieht es bei uns Menschen aus? Kürzlich habe ich gelesen, die Frühmenschen hätten rund 30 Kilometer am Tag zurückgelegt, um zu sammeln und zu jagen. Und wenn sie das erledigt hatten? Es wartete kein Geschirrspüler darauf, befüllt oder ausgeräumt zu werden. Sie haben ihre Höhlen oder Hütten nicht staubgesaugt, nicht rasengemäht oder Wäsche gewaschen. Abends brummte nicht das Smartphone: „Mike, kannst du gerade mal rüberkommen und mir Starthilfe geben?“ Abends um 19.30 Uhr war keine spontane Hilfe bei den Hausaufgaben nötig.

Vielleicht haben sie abends zusammengesessen, ihre Speerspitzen geschärft, ihre Körbe ausgebessert, kleine dicke Fruchtbarkeitsgöttinnen aus Lehm geformt und dicke Mammuts an die Höhlenwände gemalt. Wahrscheinlich mussten sie manchmal hungern, hatten keine ärztliche Versorgung und haben im Winter bitter gefroren. Aber richtigen Stress hatten sie nur, wenn sie bei der Jagd oder in Gefahr blitzschnell reagieren mussten.

Welcher Säbelzahntiger ist denn hinter dir her?

Wir tragen noch immer eine Grundausstattung der Natur für diese Lebensweise in uns. Viel bewegen, zwischendurch ausruhen, hin und wieder in den Adrenalin-Modus schalten. Die Betonung liegt auf „hin und wieder“, also im Notfall. Wären unsere Vorfahren in dem Tempo unterwegs gewesen, das für uns im Alltag normal ist, hätten sie die Kräuter, Körner und Beeren in der Pampa nicht mal wahrnehmen, geschweige denn sammeln können. Und dieses Gefühl, permanent unter Strom zu stehen, werden sie nicht gehabt haben.

Unsere Stressoren sind nur gefühlt existenziell. Was kann uns im schlimmsten Fall passieren? Das Worst Case Szenario ist individuell. Was wäre für dich am schlimmsten? Arbeitslosigkeit? Hartz IV? Eine schwere Krankheit? Kein großes Auto? Kein eigenes Haus? Ok, wenn man in jungen Jahren  von einer unheilbaren Krankheit befallen wird, ist das furchtbar und existenziell. Darauf haben wir keinen Einfluss. Aber die Ängste vor materiellen Verlusten sind ganz und gar nicht existenziell. Unsere sozialen Netze funktionieren immer noch so gut, dass niemand verhungern oder erfrieren muss. Der Lebensstandard würde sinken, aber das würden wir überleben. Was wir unter „Existenz“ verstehen ist der Wohlstand, den wir gewohnt sind. Ob wir ihn erhalten und steigern, liegt in unserer Hand.

Selbstgemachter Überfluss-Stress

Für unsere Vorfahren machte es keinen Sinn, deutlich mehr zu sammeln und zu jagen, als sie innerhalb kurzer Zeit essen konnten. Ohne Kühlschrank, Dörrapparat oder Einweckgläser musste vieles unmittelbar verzehrt werden. Wir hingegen empfangen ständig Impulse, immer mehr zu konsumieren. Und natürlich müssen wir immer mehr arbeiten, um uns all das leisten zu können.

Diesem Stress sind nicht alle gewachsen, weder physisch noch psychisch. All die krankheitsbedingten Ausfalltage kommen nicht von ungefähr. In meinem E-Book „Burn-out und Depression“ bin ich darauf eingegangen. Ich plädiere nicht für die Rückkehr zur Lebensform der Urgesellschaften. Allerdings geht mir bei meinen Überlegungen zum Thema Faulheit durch den Kopf, wie falsch die Prioritäten sind, die wir reflexhaft setzen. Wir lassen uns stressen und stressen andere, obwohl Stress ein Instrument ist, um existenziellen Bedrohungen zu entgehen.

Deshalb plädiere ich für einen Wechsel der Perspektive. Stress entsteht im Kopf, wenn wir uns im übertragenen Sinne von Anforderungen gejagt fühlen oder meinen, zum Angriff übergehen zu müssen. Das passiert, wenn wir reagieren statt zu agieren. Haben wir einen klaren Plan für unser Leben, sind wir selber die „Bestimmer“. Für welche Ziele will ich meine Energie einsetzen? Was bringt mich auf meinem Weg voran, was hindert mich? Wie möchte ich mein Leben gestalten?

Hilfreich bei diesem Perspektivwechsel ist es, zwischendurch immer mal wieder inne zu halten. Bin ich noch auf meinem Weg? Wovon lasse ich mich gerade stressen? Macht das gerade Sinn, was mich treibt und ärgert?

Dreh doch mal alles auf links

Faul sein heißt nicht, keinen Antrieb zu haben. Es bedeutet, mal locker zu lassen. Die besten Ideen habe ich immer, wenn ich kurz vor dem Einschlafen bin. Zwischen Wach- und Schlafzustand gibt es eine Phase des Dämmerns, in dem es kein bewusstes Wahrnehmen und Nachdenken gibt. Mein Hirn scheint es zu nutzen, um sich ganz zwanglos zu sortieren. Plötzlich hat es einen Freiraum, um Informationen, Eindrücke und Erfahrungen durchzurütteln und neu zusammen zu puzzeln. Dann kommen die besten Ideen. Inzwischen lege ich mir etwas zum Notieren neben das Bett, weil mir manchmal diese Gedankenblitze am nächsten Morgen nicht mehr einfallen.

Was mir an diesem Phänomen besonders wichtig zu sein scheint, ist der Zusammenhang zwischen Lockerlassen und Neuordnung. Wir halten uns für von Intelligenz bestimmte Wesen. Was tagtäglich an Eindrücken auf uns niederprasselt, können wir nur durch das Filtern, Einsortieren und Ignorieren von Informationen bewältigen. Deshalb neigen wir dazu, in Schubladen zu denken und zu handeln. Wir hinterfragen unsere Lebensweise und unseren Lebensstil selten. Und dann wundern wir uns noch, dass wir uns als Getriebene empfinden und unzufrieden sind?

Würden wir unsere Intelligenz anders nutzen und uns durch unsere eigenen Wünsche und Träume leiten lassen, könnte uns nichts und niemand unter Stress setzen. Wir könnten hart für unsere Ziele arbeiten, wären aber hoch motiviert. Unwichtiges könnten wir klar von Wichtigem unterscheiden und einfach aus unserem Pensum aussortieren. Unser Leben hätte eine klare Orientierung, wäre selbstbestimmt und zielführend.

Träume sind die Grundlage von Zielen

Hältst du das für eine Theorie, die sich nicht umsetzen lässt? Was spricht dagegen? Die Umstände? „Die Umstände“ sind Grenzen, die wir uns selber setzen. Ich empfehle, mal faul zu sein, sich in eine bequeme Position zu bringen oder im Grünen herumzuspazieren, und dem eigenen Wunschgenerator im Hirn freien Lauf zu lassen. Nichts ist verboten, nichts wird sofort als nicht machbar verworfen. Alle Träume sind erlaubt! Ich wette mit dir, dass sich deine Träume realisieren ließen, wenn du sie nur zielgerichtet verfolgen würdest.

Faulheit ist wichtig. Sie schafft die Voraussetzung, mal aus dem Alltagskorsett auszusteigen und die Gedanken schweifen zu lassen. Auf neue Ideen kommt man selten durch angestrengtes Nachdenken.  Man kann wie ein Eichhörnchen ständig herumwuseln. Wie beim kleinen Nager besteht dann jedoch die Gefahr, dass man das Ziel seiner Aktivitäten aus den Augen verliert. Wer blindlings schuftet, hat hinterher wenig davon. 23 ½ Stunden am Tag schlafen wie unser Kater möchte ich auch nicht. Aber der Gedanke, meine Kräfte konzentriert für etwas einzusetzen, dass mich meinen Zielen näher bringt, gefällt mir gut.

Faule Pausen vom hektischen Alltag bringen uns unseren Zielen näher. Lass mal locker!

Herzlichst
Mike Warmeling